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24.08.2015

Ich habe viel Bekümmernis

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Der Titel einer bekannten Bach-Kantate beschreibt treffend mein Verhältnis zu Koloraturen, den die Melodie umspielenden Verzierungen in Form nicht enden wollender Sechzehntel-Ketten. Besagter Bach, der Übervater aller Komponisten, hat zu meinem Leidwesen davon ausgiebigen Gebrauch gemacht. Und da wir nun bereits seit geraumer Zeit daran sind, seine h-Moll-Messe zu proben, ist das Präsens angebrachter: Nicht „ich hatte …“ sondern „Ich habe viel Bekümmernis!!!“

„Seufzer, Tränen, Kummer, Not, …“

Beim ersten Durchsingen eines Werks in der Chorprobe werde ich von der im Notentext lauernden Koloratur meist unvorbereitet getroffen. Häufig verbirgt sie sich listig hinter einer ausgedehnten Pause, die meine Aufmerksamkeit gemindert hat, warnende Signale aus den anderen Registern habe ich wohl überhört. Und dann ist sie da! Wie aus dem Nichts erhebt sich plötzlich ein Notenberg vor meinem entgeisterten Auge. Meine Mitsänger verschwinden aus meinem Bewusstsein, ein Gefühl von Einsamkeit breitet sich in mir aus. Und während ich noch überlege, welche Silbe welcher Note zuzuordnen ist, ob die Melodie wohl aufwärts oder abwärts geht (meist beides gleichzeitig), ist es auch schon wieder vorbei. Erstmal durchatmen und das Erlebte verarbeiten. – Doch dafür bleibt keine Zeit. Denn schon nähert sich eine Variation, die sich den Anschein gibt, eine Zwillingsschwester ihrer Vorgängerin zu sein, mich aber mit unerwarteten Eigenheiten schnell wieder aus dem Gleichgewicht bringt. Es ist reiner Selbstschutz, dass ich in diesem Probenstadium die Existenz von Vorzeichen leugne.

Der Herausforderung versuche ich zuhause mit Extra-Übungseinheiten zu begegnen. Zunächst müssen die im Notentext enthaltenen Koloraturen identifiziert, warnend hervorgehoben und analysiert werden. Dem Rat folgend, den Elefanten scheibchenweise zu essen, suche ich nach geeigneten Notengrüppchen, in die sich die ganze Phrase einteilen lässt. Nach abgeschlossener Markierung erkenne ich kaum noch die Noten hinter all den Hinweisen, was ihnen aber nichts von ihrer Bedrohlichkeit nimmt. Und dann beginnt das Buchstabieren. Erst langsam, dann schneller, immer schneller – immer falscher. Also wieder zurück auf Los. Und Viererpäckchen üben. Alles wieder zusammensetzen. Wieder langsam beginnen, dann schneller, immer schneller. Stimmt alles noch so ungefähr. Geht’s vielleicht auch schon auswendig? Ja – nach fünfzig weiteren Durchläufen. Ok, jetzt bin ich fit für die nächste Probe!

„Ängstlichs Sehnen, Furcht …
Nagen mein beklemmtes Herz, …“

Äusserlich gelassen nehme ich an der nächsten Probe meinen Platz ein und blicke mich verstohlen um. Ob die anderen wohl genauso gut vorbereitet sind, wie ich? Die ersten gesungenen Takte nehmen mir nichts von meiner Zuversicht. Doch dann kommt die Ungeduld, jetzt will ich wissen, ob sich das Training gelohnt hat. Einige Takte weiter stellt sich jedoch die Ungewissheit ein. Habe ich genug geübt? Irgendwie fühlt sich alles leer in mir an. Nun naht die erste Koloratur, aus Ungewissheit wird Furcht. Kann ich mich noch an den Einsatzton erinnern? Sicherheitshalber nehme ich schon mal Tempo heraus und versuche, mich dabei nicht vom Dirigenten beirren zu lassen. Gleich ist es soweit. Und schon fangen meine Nachbarn an zu singen. Die sind doch zu früh!!! Oh, ich glaube, ich habe den Einsatz verpasst. Verzweifelt suche ich einen neuen Einsatzpunkt. Doch bevor ich einen finde, ist schon wieder alles vorbei.

Die erste Reaktion unseres Chorleiters Johannes: „Eine Version mit Vorzeichen würde ich vorziehen!“ Oh, die hatte ich doch aus pädagogischen Gründen weggelassen!

„Ich empfinde Jammer, Schmerz.“

Mit hängenden Schultern gehe ich nach Hause und nehme mir vor, noch viel mehr zu üben. Und schöpfe neue Zuversicht, indem ich zur Abwechslung einmal Hedvig Mollestads CD „All of them witches“ höre. (Für Leidensgenossen: auf Youtube nach „Hedvig Mollestad Trio Sing, Goddess“ suchen.)

Aber nun keine Ausflüchte mehr – auf zum Endspurt bis zum Konzert im September!

„O-sa-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-na!“

Andreas Wepler, Sänger Chor Audite Nova Zug

> Link zum Konzert

 

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