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14.04.2014

Die „singende Revolution“

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“Singen ist in Lettland nicht nur ein Symbol der Unabhängigkeit, es ist ein wesentlicher Teil jeder Seele. Riga ist ein hervorragender Ort, um den größten Chorwettbewerb der Welt zu organisieren”, heisst es in einer Pressemitteilung der World Choir Games.

Singen hat nicht nur in Riga, sondern im ganzen Baltikum eine lange Tradition. Jahrhundertelang politisch und kulturell von fremden Staatsmächten dominiert, besann sich die Bevölkerung im Zuge des erwachenden nationalen Bewusstseins im 19. Jahrhundert auf die eigene Kultur und Sprache. Und dabei spielten vor allem die überlieferten Volkslieder eine wichtige Rolle. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verliehen die Balten ihrem Heimat- und Nationalgefühl auf den traditionellen Sängerfesten Ausdruck. Bereits damals, während der Zarenzeit, wurden daher Lieder zensiert oder gar verboten.

Die Tradition der Sängerfeste erreichte während der Zeit staatlicher Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen einen Höhepunkt. Unter der sich anschliessenden sowjetischen Herrschaft versuchten die Machthaber wieder das Liedgut durch Verbot und Zensur zu manipulieren und damit zum Instrument ihrer Herrschaft zu machen. Doch die Balten pflegten die Kultur des Gesangs weiter, auch als Mittel, im Verborgenen die eigene nationale Identität zu bewahren.

Die von Michail Gorbatschow Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit der Forderung nach „Glasnost“ und „Perestroika“ eingeleiteten gesellschaftlichen Verände­rungen ermutigten auch die Balten, ihre traditionellen, häufig immer noch verbotenen Lieder wieder öffentlich zu singen, woraus sich die „singende Revolution“ entwickelte. Seit 1988 wurden die wieder aufgenommenen Sängerfeste schnell zu Massenkundgebungen des nationalen Selbstbewusstseins der baltischen Völker. Auf dem estnischen Sängerfest 1990 in Tallinn wurde erstmals auch wieder die estnische Nationalhymne unter der schwarz-blau-weissen Nationalflagge gesungen.

Die „singende Revolution“ erreichte einen ihrer Höhepunkte am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, als mehr als zwei Millionen Menschen – die baltische Gesamtbevölkerung betrug damals etwa sieben Millionen – eine 620 km lange Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius bildeten, sich im Protest für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten schweigend die Hände reichten und anschliessend nationale Lieder sangen.

Nach dem Scheitern des Putsches der „alten Garden“ in Moskau gegen Gorbatschow im August 1991 erkannte die Sowjetunion schliesslich auch die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens an. Der friedliche, wesentlich durch die Kraft des Gesangs geprägte Kampf der Balten für ihre Unabhängigkeit fand damit seinen von Erfolg gekrönten Schlusspunkt.

Heute finden die traditionellen Liederfeste in Lettland, Estland und Litauen wieder regelmässig statt. Im Jahr 2003 wurden sie von der UNESCO sogar als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt.

„Die lettischen Menschen sind sich der immensen Kraft und Macht des Gesangs bewusst. Aus diesem Grund werden die WCG mit offenen Armen willkommen geheißen, weil sie nicht nur positive Emotionen, sondern auch ein tiefes künstlerisches und professionelles Interesse mit sich bringen.“ erklärt die lettische Kultusministerin, Žaneta Jaunzeme-Grende, in einer Pressemitteilung der World Choir Games und fügt hinzu:  „Es ist gut möglich, dass Lettland während der WCG die meisten Sänger stellen wird – und ich werde einer davon sein!“

Bild: Thomas Iten

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