Sag mal, warum singst Du eigentlich?

Kurz nach Übersiedlung in die Schweiz machten wir die Bekanntschaft eines Nachbarn, der Mitglied im Chor Audite Nova Zug war. Alsbald warf er das Netz nach mir aus, um mich als Mitsänger zu gewinnen. «Männer unter 40!» lautete sein Suchauftrag. Ein Kriterium, das ich verfehlte, aber in der Not frisst der Teufel ja bekanntlich Fliegen. Das Argument, das mich überzeugte, war, dass es sich nur um einen vorübergehenden Einsatz handeln solle. Unterstützung für ein Projekt werde gesucht und ein Mangel singender Männer sei zu beheben. Nun, da gab es etwas zu erleben und mit meinem Einsatz würde ich sogar noch helfen. Immerhin hatte ich ja vor Jahrzehnten mal im Schulchor gesungen. Ein bisschen Singen, kein Problem!
Bald sass ich also im Kreis der Audite Nova-Bässe. Man händigte mir ein dickes Notenbuch aus. Und mein Übermut begann zu schwinden. Als sich auf Zeichen des Chorleiters die Stimmen des Chors erhoben, schrumpfte ich auf meinem Sitz. Was ich da hörte, deckte sich nicht mit den Erinnerungen an den Schulchor und auch nicht an den Männergesangverein in dem mein Vater gesungen hatte. Gut, dass ich mich nicht in die erste Reihe gesetzt hatte. Sicherheitshalber beugte ich mich tief hinter mein Notenbuch und versuchte gleichzeitig den chorischen Wohlklang nicht durch überlautes Singen zu stören. Es dauerte nicht lange, bis mich mein Nachbar zur Rechten anherrschte: «Ich verstehe nicht, wie man so singen kann!». Kopf hoch, Rücken durchdrücken, gerade sitzen! Eine erste Lektion, die ich bei Audite Nova gelernt habe.
Demütig ging ich nun wöchentlich zu den Proben. «Registerausgleich!», «Stützen!», «Herschauen! HERSCHAUEN!!!» gehörte zu häufig geäusserten Forderungen des Chorleiters. «Auswendig singen!» konnte ich getrost ignorieren: erstmal singen, auswendig kommt später.
«Schön, dass Du bei uns mitsingst!», überfiel mich nach ein paar Wochen ein Mitglied des Vorstands. – (Nun ja, nicht gleich übertreiben.) – «Aber wenn, Du bei uns mitsingen möchtest, dann musst Du zum Vorsingen. Melde Dich einfach in nächster Zeit bei Johannes für einen Termin.» – (Vorsingen? Da haben wir den Salat!) – «Ähm, ich dachte es ginge hier um eine vorübergehende Projektteilnahme!?» – «Oh, da musst Du etwas falsch verstanden haben.»
Bereit mit fliegenden Fahnen unterzugehen, stand ich wenig später vor besagtem Johannes. «Was haben Sie vorbereitet?» fragte er mit distanzierter Strenge. – (Vorbereitet??????? Davon hat keiner was gesagt.) – «Nichts!» – Zweifelnde Stille. Um die Situation zu retten, durfte ich ein paar Tonleitern und Übungen singen, die er mir vorgab. Schliesslich, wohl hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, die sängerische Qualität des Chors zu bewahren und dem Ziel einen weiteren Mann für den Chor zu gewinnen, fällte er das salomonische Urteil «Ich werde dem Vorstand empfehlen, Sie aufzunehmen. Aber nur unter der Bedingung, dass Sie Stimmbildungsunterricht nehmen!»
Nach so vielversprechendem Beginn bin ich seit 20 Jahren Chormitglied. Ich weiss nun, wie man richtig bei den Proben sitzt, was ein Registerausgleich ist. Und ich habe gelernt, dass Chorleiter es schätzen, wenn man ihnen beim Singen Aufmerksamkeit schenkt, indem man den Blick aus den Noten hebt und strahlend lächelnd nach vorne schaut.
Und damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage: «Sag mal, Andreas, warum singst Du eigentlich?»
Wenn ich an die vielen Konzerte, Erlebnisse, Reisen, die Chorgemeinschaft, die musikalische Ausbildung, die ich ganz nebenbei erhalten habe und vor allem an die Musik, an der ich mitwirken durfte, denke, dann sage ich zu mir: «Mein Lieber! Dazu bist Du gekommen wie die Jungfrau zum Kind! Aber es hat sich gelohnt! Und Du machst selbstverständlich weiter!»
Der Suchauftrag «Männer unter 40» gilt übrigens noch immer.
Also, Männer unter 40, hört mir zu! Worauf wartet Ihr eigentlich noch? Meldet Euch beim Chor Audite Nova!
• Nein, Singen ist nicht unmännlich: Unsere Sopranistinnen und Altistinnen werden Euch zu Füssen liegen, wenn Ihr bei uns mitsingt. Und Tenöre und Bässe werden Euch mit offenen Armen empfangen.
• Fürchtet Euch nicht vor dem Vorsingen. Sogar ich habe es geschafft.
• Und wenn Ihr meint, dass Ihr nicht singen könnt: Ich werde dem Vorstand empfehlen, Euch aufzunehmen. Aber nur unter der Bedingung, dass Ihr Stimmbildungsunterricht nehmt.
• Und wenn Ihr meint, dass Ihr singen könnt: Dann gibt es auch keine Ausreden!
Andreas Wepler
P.S.:
Wenn ich an das Vorsingen bei Johannes denke, dann fällt mir ein Titel von Suzy Quatro ein: «48 Crash». Kennt Ihr sicher! Das lege ich jetzt gleich mal auf.